Auf nach Argentinien, aber was weiß ich eigentlich über das Land? Ein riesiges Land, viel Fleisch, die haben jetzt Winter statt Sommer, von Mate und Tango habe ich gehört und die Zeit soll dort anders gehen. Und sonst?
Der Abflug beginnt geschmeidig. Meine zwei Taschen sind kein Problem und früher nach Frankfurt kann ich auch schon fliegen. Super! Die Zeit vergeht, der Flug wird gestrichen, mein ursprünglicher Flug auch, jetzt wird es aber knapp mit dem Anschluss in Frankfurt. Und ich habe auch noch kein Sitzplatz. Also bin ich gesprintet von Gate zu Gate in Frankfurt, der Flughafen ist so riesig! Aber es hat sich gelohnt und es gab auch noch eine Überraschung: ein Upgrade zur Business Class. So lässt es sich aushalten für die nächsten 13 Stunden.
Angekommen in Buenos Aires fehlt das Gepäck, es ist irgendwo hängengeblieben und soll morgen nachkommen. Naja, ich wollte ja schon immer spartanisch reisen. Bruno holt mich ab vom Flughafen und ich frage noch blöd: „Dein Deutsch ist aber gut – warum?“ „Ich bin Deutscher, meine Eltern sind ausgewandert.“ Ach ja, auswandern bzw. einwandern ist für mich ja auch für die nächsten Wochen Thema. Dann folgt der supernette Empfang der Familie. Peter zeigt mir Werkstatt, Haus, die zukünftigen und aktuellen Baustellen und Ideen auf dem Grundstück. Ich lerne meine neuen 15 Kollegen für die nächsten vier Wochen kennen und behalte auf Anhieb nicht einen Namen. Und dann geht es auch schon los: Was kann ich helfen, wo ist, wann ist und wie am besten? Die Anlagenkante hat Priorität und im Rio-Stadtteil Lapa soll es vorwärts gehen.
Abends geht’s dann in den großen Supermarkt, denn das Haus in dem wir Wunderländer wohnen werden, ist noch nicht eingerichtet. So wandern Tassen, Teller, Besteck, Handtücher, Bettwäsche, Decken und all das Zeug, was eine erst vermisst, wenn eine es nicht mehr hat, in den Einkaufskorb. Ich fand mich sehr smart, denn ein Schlafsack befindet sich in meiner Tasche, aber ohne wäre es eine kalte Nacht geworden bei nur zwei Grad.
Die erste Nacht ist kurz, überall ungewohnte Geräusche und Hunde bellen die ganze Nacht. Um 8 Uhr stehe ich in der Werkstatt – überdeutsche Pünktlichkeit? Nein, die Zeitverschiebung macht das, schon seit 5 Uhr wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Meine Kolleginnen und Kollegen kommen nach und nach auch und beginnen mit der Arbeit, im Hintergrund läuft gute Musik und ich komme gut in den Flow. Jimmy und ich beginnen mit dem Bau der Anlagenkante. Ganz wie im Wunderland heißt das erstmal viel ausmessen, Platten schleppen und dann fleißig zurecht sägen. Die Maschinen sind anders als in Hamburg und so muss auch ich umdenken und anders als gewohnt arbeiten. Wir kommunizieren in Englisch mit Wortfetzen in Spanisch und Deutsch und wissen beide zumindest meistens was gemeint ist. Manchmal kommt es zu Missverständnissen, aber die sind eher lustig als störend. In den kleinen Pausen wird Mate und Kaffee getrunken und irgendjemand hat immer Kekse dabei. Meine Kolleginnen und Kollegen erzählen sich vom Wochenende (glaube ich) und es wird viel gelacht. Wieder einmal denke ich: Schade, dass ich nicht mehr Sprachen gelernt habe, das würde den Einstieg erleichtern und ich könnte mitlachen. Zum Mittag holt mich Gabby aus der Werkstatt und ich esse mit der Familie Martinéz. Mutter Zulema hat für alle gekocht. Sie ist sowieso die wichtigste Mitarbeiterin, denn ohne ihr gutes Essen könnte hier keiner arbeiten.
Die ersten Tage vergehen, ich finde meinen Rhythmus: Morgens heißt das Arbeit am Computer und wenn Jimmy kommt geht es ans Praktische. Die Anlagenkante wächst, ab und zu müssen wir Leute verschieben, die uns im Weg arbeiten, aber alle sind entspannt.
Es gibt noch einige Besorgungen zu machen für unser Wohnhäuschen und so lerne ich die Bettengeschäfte, Einkaufsmeilen und Supermärkte der Umgebung kennen. Gabby ist mir dabei eine große Hilfe, denn ohne Spanischkenntnisse komme ich oft nicht weiter. Am Samstag ist gefühlt jeder Argentinier für einen Ausflug in der Einkaufsmeile und irgendwie sind auch wir in diesen Strudel geraten. Merke: Never go shopping on a Saturday! Diese Erkenntnis wird Gabbys und mein Running Gag sein und wir werden uns doch wieder lachend im Strudel befinden.
In der zweiten Woche heißt es dann: „Judith, kannst du am Mittwochmorgen um 5:30 in der Werkstatt sein? Im Wunderland findet eine Pressekonferenz mit Liveschalte zu uns statt.“ „Ahh ja, da habe ich doch wieder die Katze im Sack gekauft.“ Alle waren ganz positiv aufgeregt, die Werkstatt wurde geputzt, Häuser von der Copacabana positioniert, Haare gebürstet, Bärte gekämmt und die Kaffeemaschine gestartet. Für mich war es merkwürdig, die Stimmen vom Wunderland zu hören und das Wunderland dabei über Bildschirm zu sehen. Das frühe Aufstehen hat sich aber gelohnt: Die Pressekonferenz war ein Erfolg auf beiden Seiten und endlich ist die frohe Kunde, dass wir gemeinsam mit der wunderbaren Familie Martinéz Südamerika bauen, aus dem Sack.
Die Zeit vergeht, schon sind zwei Wochen um und mein Kollege Michel kommt an. Wir wollen zusammen eine Exkursion unternehmen, um Land und Leute besser kennenzulernen. Kaum ist er aus Deutschland gelandet, schon sind wir wieder am Flughafen, um nach Salta zu fliegen. Dort haben wir uns ein Auto gemietet, um die Route 68 und Route 40 nach Mendoza zu fahren. Rund 1.300 km vorbei an Cafayate, Belen, Famatina und San Juan. Unterkünfte haben wir nicht gebucht und wir werden schauen, wo wir spontan hängen bleiben.
Das Auto hat einen Versicherungsschutz für Schäden an Glas, Reifen und Unterboden. Mir war in Deutschland nicht klar, warum das extra aufgelistet wird. Jetzt bei der Autoübergabe fällt die Erleuchtung wie ein schwerer Stein auf mich. Die Straßen sind meistens gut, aber sobald eine diese auf dem Seitenstreifen verlässt, gibt es Schotter oder Sandpiste mit teilweise Kratern, in denen eine nicht versinken möchte. Gefahren wird 40 km/h in Ortschaften und 80 km/h auf Landstraßen, selten ist jemand schneller unterwegs und das Fahren gestaltet sich gemütlich. Ich habe bis zum Schluss nicht durchschaut wer Vorfahrt hat. Der neuere Wagen vor der alten Rostlaube, rechts vor links, Hauptstraße vor Nebenstraße, der dicke Wagen vor dem kleinen, oder alles umgekehrt? Außer Bussen, denen macht eine Platz, vor allem als Fußgänger. Na egal, jeder fährt entspannt, kein Gehupe und irgendwann schiebt eine sich dazwischen und die Reise geht weiter.
Unsere erste Übernachtung ist im Backpacker in Cafayate nachdem wir an Quebrada Colorado, zu Beginn des Sonnenunterganges, bei den bunten Felsen vorbeigekommen sind. Die Farben sind in ständiger Bewegung und eine könnte tagelang zuschauen und fotografieren. Bei Los Medanos, den Sanddünen, wechselt dann das Bild und eine denkt das Meer ist nicht mehr weit. Wirklich sehr beeindruckend dieser Abschnitt unserer Strecke.
Abends gehen wir auf dem quadratischen Marktplatz, den es hier in jedem Ort gibt, noch was trinken. Michel ein Bier und ich hausgemachte Limo, Glas oder Flasche werden wir noch gefragt. Und so sitzen wir beide selig vor unseren kleinen Getränken, jeweils 1 Liter. Hier ist vieles eben größer. Der Tag war sonnig und wärmer als in Pilar, doch jetzt wird es merklich kühler. Am Morgen gibt es den besten Kaffee von Jorginia, den ich auf dieser Reise getrunken habe. Wir überlegen noch kurz zurückzufahren, um uns noch mehr an Farben satt zu schauen, sind aber unsicher wie wir zeitlich mit dem Rest der Strecke klarkommen. So geht es weiter!
Die Farben wechseln immer noch, mal sind die Berge fern, dann wieder nah. Das Auto schnurrt, wir hören argentinisches Radio, essen Kekse und trinken Cola und fühlen uns wie im Urlaub. Ab und zu biegen wir ab, um uns etwas anzuschauen oder stoppen für einen Foto. Zum Mittag halten wir an einem Imbiss und obwohl wir nicht die gleiche Sprache sprechen und mehr raten als verstehen, haben wir was Passendes auf den Tellern.
Übernachten wollten wir eigentlich auf einer Finca, da ist aber niemand zu Hause. Dann probieren wir eine private Unterkunft, klappt nicht und so schlafen wir in einer Hosteria. Ich würde es beschreiben wie eine Mischung aus Roadhouse und Jugendherberge. Frisch und munter setzen wir unseren Weg gen Süden fort. Die Landschaft wird flacher, oft kann eine kilometerweit die Straße sehen. Wir sehen Schafe, Ziegen und Esel, wild oder mit viel Auslauf ist nicht klar. Sie sind auch wenig beeindruckt vom Auto. Auch Hunde denken ihnen gehört die Straße und wenn eine keinen überfahren will, muss eine eben mit dem Auto ausweichen. Vielleicht halten sie sich auch für unsterblich oder es sind Selbstmörder. Weil wir in einer Weingegend sind, wollen wir heute auch auf einem Weingut übernachten. Dort sind kein Auto und keine Gäste zu sehen, aber es heißt, sie wären voll ausgebucht. Sehen wir zu wild aus? Naja so bleibt uns nichts anderes übrig als bis nach Mendoza weiter zu fahren, wenn wir nicht im Auto schlafen wollen. Viel zu früh sind wir am Ziel, wir waren so im gemütlichen Fahrrausch! Schon beim Einfahren in die Stadt habe ich gedacht, wann können wir wieder aufs Land, hat mir besser gefallen. Es war argentinischer authentischer. Hier gibt es wieder Touristen, wir können auf Englisch kommunizieren und das Hotel könnte auch in Hamburg sein. Dazu natürlich viele Autos und Menschen. Am nächsten Tag überlegen wir, ob Michel und ich noch weiter nach Süden fahren, nach Osten oder Westen. Nur in der Stadt bleiben wollen wir nicht. Schließlich haben wir noch zwei Tage ein Auto und Zeit, da gibt’s noch viel anzuschauen. Wir beschließen in die Berge so nah an die chilenische Grenze zu fahren wie es geht. Unser erster Stopp ist der See Embalse Portrerillos. Ein Bergsee an dem viel Wassersport betrieben wird.
Wir fahren weiter nach Uspallata, Mittagsrast mit Schnitzelburger und Empanadas und entdecken schon ein schönes kleines Hotel für die Nacht. Doch erstmal wollen wir weiter! Es geht kontinuierlich höher, mit LKWs Richtung Chile und wird auch immer kühler. Zuerst sehe ich nur schneebedeckte Gipfel, dann schneebedeckte Berge und oben zwei Kilometer vor der Grenze schneit es dann tatsächlich auch. Tags darauf fahren wir wieder die Berge runter in die Stadt Mendoza, wo wir noch Zeit haben, diese zuerst mit dem Auto und dann zu Fuß zu erkunden. Den letzten Abend lassen wir im Park ausklingen.
Wieder zurück in der Werkstatt arbeite ich mit Jimmy am Platz Cardeal Camara Square. Zuerst schnitzen wir die Steine in den Gips und dann versuchen wir das ganze farblich zu gestalten. Das Schnitzen in unbequemer Haltung auf der Platte führt zu Verspannungen im Nackenbereich. In einfachen Worten: Die müssen verrückt sein und ich auch. Bei der Farbgestaltung helfen uns Virginia und Peter nachdem uns unser erster Versuch nicht gefallen hat.
Dann geht es an die Fußwege für Lapa mit einem sehr aufwendigen Muster, das angepasst werden muss. Bordsteinkanten werden aus Polyplatten zu 3 mm Streifen zugesägt und dann kerbt eine mit dem Messer oder einem Schnitzeisen die einzelnen Steine ein. Mit Farbe grundieren, für eine Struktur, anmalen in der gewünschten Farbe, in Position festkleben und altern. Die Anlagenkante bekommt noch Fenster, die später unseren Bahnfahrern als Serviceklappen dienen werden. Am letzten Abend sind wir zum Abschied schön Tapas beim Mexikaner essen gegangen und dann noch was trinken. Sonntagabend ist der Rückflug nach Deutschland, die letzten Stunden verbringe ich im Garten – eingehüllt in eine Decke, Tee trinkend und in die Gegend starrend. Frau war das schön hier!
Resümee meiner Arbeitsreise. Ich fand es mal wieder sehr spannend zu sehen, wie eine auch anders arbeiten und leben kann. Ein großes Dankeschön gilt der Familie Martinéz, die mich immer unterstützt und familiär begleitet hat. Meinen argentinischen Kollegen/innen danke ich für die Freundlichkeit, auch wenn ich ihr Werkzeug gemopst habe oder Rückbau am Modell betrieben habe. Und auch dem Wunderland möchte ich für diese Möglichkeit danken. Wenn eine eine Reise macht, dann kann sie was erzählen!
Hallo Judith, vielen herzlichen Dank für den tollen, langen Reisebericht.
Das klingt nach neuen Horizonten und Abenteuern und kommt bestimmt auch der Inspiration „daheim“ in Hamburg zugute. Wer hätte je gedacht, dass die Wunderländer*innen mal eine Werkstatt mit Familienanschluss im fernen Argentinien haben werden?
Danke für den spannenden Bericht.
Einfach einmalig, diesen Bericht. Kann nicht warten bis ich diesen Abschnitt in Hamburg bewundern kann. Ihr seit alle so positiv verrückt !!
Oh, wie fein. Wollt ihr auch den Tren a la nubes bauen ? Mitsamt dem Viaducto La Polvorilla ?
Hallo Judith, das hat echt Spaß gebracht, deinen Reisebericht zu lesen. Und auch noch so lustig geschrieben. Ich war bildlich dabei. Ich kenne die USA und die Menschen und deren Freundlichkeit. Einfach Klasse. Wundervolle Natur und sehr beeindruckende Bilder. Ich bin seehr gespannt auf Euer Südamerika.
Danke für den klasse Bericht.
Just wished I could be a little mouse in your pocket. What an amazing adventure.
Hallo Judith, bei dem Bericht schwelgte ich in Erinnerungen. Wir hatten das Glück 1986 Freunde in Buenos Aires zu besuchen und habe die Tour per VW Bus gemacht. Waren rauf bis Humahuaca 4.765 Km. Da wir auch gerade in HH Übernachtungsbesuch der Tochter unserer Freunde hatten, haben wir unser Album und den Reisebericht wieder einmal durchgelesen. Einige Dinge der Reise hängen noch bei uns noch an den Wänden. U.a. ein Wandteppich den wir Nähe Cafayate erworben haben, mit Signum des Künstlers und Besichtigung seiner Werkstatt. Das unortodoxe Autofahren hat uns damals vor Probleme gestellt. Wir sind gespannt auf Südamerika. Wir wünsschen Dir und dem Team ein glückliches Händchen.